Es war einmal ein Mann. Eines Tages, es war ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, bemerkte der Mann noch beim Frühstück voller Erstaunen, dass er nicht mehr bei sich war. Im ersten Moment erschrack der Mann, fasste sich dann aber gleich wieder; er hatte schliesslich nicht zum ersten Mal etwas verloren, eigentlich verschwand ja immerzu irgendetwas, bloss um dann kurz darauf an unerwartetem Orte wieder aufzutauchen. So würde es zweifellos auch diesmal sein.
Allerdings: während der Mann durchaus zwei, drei Tage ohne seinen Kugelschreiber mit Gravur oder seine Lieblingsarmbanduhr auskommen konnte, schien es ihm undenkbar, auch nur diesen Vormittag in Abwesenheit seiner selbst zu überstehen. Der Mann eilte also in sein Schlafzimmer; es war noch früh am Morgen, und vielleicht, so überlegte der Mann, hatte er verschlafen und lag immer noch im Bett. Die Hoffnung wurde enttäuscht, das Bett war nicht nur leer, sondern auch schon aufgeräumt und für den Tag hergerichtet.
Auch im Klo, unter der Dusche und unten beim Briefkasten war keine Menschenseele zu sehen. In der Küche aber standen Kaffee, noch warm, und eine Schüssel Frühstücksflocken auf dem Tisch, deshalb musste der Mann, so folgerte er nun, bis unmittelbar zum Beginn des Frühstücks noch bei sich gewesen sein.
Jetzt aber war nirgends eine Spur von ihm zu finden. Der Mann wurde von Augenblick zu Augenblick unruhiger; er schaute im Keller nach und in der Waschküche, und danach öffnete er alle seine Schränke, obwohl er in die meisten davon vermutlich nicht einmal hineingepasst hätte.
Oft gehörte Wortbrocken kamen dem Mann in den Sinn: "Selbstsuche", "Selbstfindung", "Selbstlosigkeit". Er hatte diese Dinge nie richtig verstanden, aber zumindest hatte er eine wage Vorstellung gehabt, was sie wohl bedeuten mussten; irgendetwas psychologisches, inneres. Jedenfalls nichts so konkretes, nichts in der Art, was ihm an diesem Morgen wiederfuhr. Er schaute in den Spiegel, und nichts und niemand schaute zurück.
Obwohl es ihn einige Überwindung kostete, griff er schliesslich zum Telefon. Der Mann hatte gehofft, dieses Problem möglichst schnell und ohne weitere Umstände lösen zu können - vor allem aber unauffällig. Dass er jetzt die Nummer seines Arbeitsplatz wählte, machte ihn noch nervöser, als er es sowieso schon war. Er erkundigte sich also, ob er denn schon im Büro sei. Nein, beschied ihm die Stimme am anderen Ende der Leitung, dazu sei es noch zu früh, er müsse wohl noch zuhause sein, oder gerade auf dem Weg.
Als auch diese Möglichkeit nicht geholfen hatte, fiel dem Mann nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Ziellos in der Stadt herumzuirren wäre auch keine Lösung, und ähnlich ziellos Bekannte und Verwandte anzurufen und nach sich selbst zu fragen, mehr als peinlich. Der Mann sprach sich deshalb selber gut zu, führte sich noch einmal vor Augen, dass man etwas Verlorenes meistens erst dann finde, wenn man gar nicht mehr danach sucht; dass es ja möglich war, dass er jeden Augenblick plötzlich wieder zur Tür hereinkam; und dass er sowieso eine noch Menge andere Sorgen habe als diese und nicht seine ganze Zeit damit zubringen konnte, den ganzen Tag nach sich selbst Ausschau zu halten. Dies alles hatte durchaus seine Wirkung und der Mann gewann bald seine gewohnte Ruhe wieder – der Rest des Tages verlief ohne böse Überraschungen.
Inzwischen liegt diese Geschichte nun schon lange zurück, und noch
immer wartet der Mann vergeblich. Ganz hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben,
eines Tages sich selbst wiederzufinden, und in einer etwas abergläubischen
Überlegung sperrt er nachts nie die Wohnungstür zu, für
den Fall, dass er plötzlich nach Hause kommen sollte. Andererseits
hat sich sonst im Leben des Mannes eigentlich recht wenig geändert,
gar nichts eigentlich, und so ist der Verlust für ihn recht gut zu
verschmerzen. Trotzdem war und ist dem Mann das Ganze etwas peinlich, und
so hat er bisher auch niemandem davon erzählt, und wenn er wüsste,
dass in diesem Text hier alles genau aufgeschrieben ist, wäre er bestimmt
sehr unzufrieden.
(c) 2000 Moritz Gerber